Haltungsinsuffizienz (Haltungsschwäche)


Haltungsinsuffizienz (Haltungsschwäche)

Kann man Nusskipferl auch durch Ermahnungen geradebiegen? Diese Frage muss klar verneint werden.
Bei kindlichen Haltungsschwächen im Normbereich kann einzig die Motivation und der Spaß des Kindes an der sportlichen Aktivität die Haltung dauerhaft verbessern. Elterliches Zwingen zu Sportarten, die dem Filius keinen Spaß machen, bringt dabei keinerlei Erfolg.

Die Sorge der Eltern wegen der Haltung bzw. der Rückenform ihrer Sprösslinge gehört zu den häufigsten Gründen für einen Besuch beim Orthopäden. Dabei sind es im wesentlichen zwei Gründe, weshalb die Eltern besorgt sind: Einerseits haben sie Angst, dass aus der schlechten Haltung eine unkorrigierbare Deformität resultieren könnte. Andererseits ist allgemein bekannt, dass Rückenschmerzen zu den häufigsten Leiden im Erwachsenenalter gehören, die man möglicherweise durch geeignete Maßnahmen im Kindes- und Jugendalter hätte vermeiden können.

Der Rücken hat in unserem Sprachgebrauch einen besonderen Symbolgehalt, er ist im besonderen Maße „der Übersetzer der Seele ins Sichtbare“, wie es Christian Morgenstern ausgedrückt hat. Schon der Begriff „Haltung“ ist doppeldeutig. Er betrifft sowohl die Form der Wirbelsäule als auch die „innere Haltung“. Eine gute „Haltung“ der Wirbelsäule ist aufrecht. Ebenso aufrecht kann der Charakter eines Menschen sein. Es gibt nicht wenige Begriffe, die im Zusammenhang mit dem Rücken die Tiefen einer Seele offenbaren können (Rückgrat zeigen, unbeugsam sein, oder vor Sorgen gebückt erscheinen, eine große Last auf dem Rücken tragen usw.). So ist es schließlich der Wille der Eltern, dass das Kind eine möglichst gerade Haltung hat.

Die krumme und flegelhafte Haltung des Pubertierenden ist aber gerade Ausdruck dafür, dass sich dieser dem Willen der Eltern nicht beugt.

Unsere Haltung wird von folgenden Komponenten beeinflusst:

  • die knöcherne Form des Skelettes, sie wird durch genetische Faktoren beeinflusst
  • der Bandapparat: ist unsere Muskulatur nicht aktiviert, hängen wir in den Bändern
  • die Muskulatur hat somit einen wesentlichen Einfluss
  • die Beckenkippung, die die Schwingung der Wirbelsäule beeinflusst
  • die hormonelle Situation, abhängig vom Alter des Kindes
  • die Psyche

Wir können bei den oben genannten Faktoren neben der Psyche jedoch nur den muskulären Zustand aktiv beeinflussen. Hier sind uns aber im Wachstumsalter Grenzen gesetzt. Das hängt zum einen mit dem hormonellen Zustand des wachsenden Individuums zusammen, welcher bis zur Pubertät nicht über die stabilisierende Wirkung der Wachstums- und vor allem der Geschlechtshormone verfügt. Es ist allbekannt, dass Testosteron eine anabole Wirkung besitzt und verbotener Weise zum zusätzlichen Muskelwachstum im Leistungssport verwendet wurde. Ähnliche Wirkung zeigt das weibliche Hormon Östrogen.

Die Kinder haben sozusagen das Glück, dass die Pubertät ein natürliches Doping darstellt, das Muskulatur und Bindegewebe ohne sportliche Betätigung stärkt. Dem Fehlen dieser wichtigen Hormone ist somit anzulasten, dass Kinder eine gewisse, nicht beeinflussbare Muskelschwäche besitzen, die sich gerade im vorpubertären Alter noch scheinbar verstärkt. Die pickeligen großgewachsenen Jungen mit den vorgezogenen Schultern, die Hände in die tiefen Hosentaschen vergraben, Kopf nach vorn geneigt und ein Rücken rund wie ein Flitzbogen, mögen manche Eltern noch in ihren Albträumen vor sich haben.

Diese scheinbare Verstärkung im Wachstumsschub kann man damit erklären, dass die Muskulatur in dieser Zeit mit dem Skelett ein erhebliches Längenwachstum durchmacht. Die Muskulatur kann nicht in dem Maße auch noch im Querdurchmesser zunehmen, es entsteht ein zeitweiliges Missverhältnis zwischen den Hebelverhältnissen der Wirbelsäule und den daran wirkenden Kräften der zu schwachen Muskulatur. Dieses Missverhältnis gleicht die Natur mit den hormonellen Änderungen wieder aus.

Im Grunde ist die Haltungsschwäche in gewissen Grenzen also ein Normalbefund.

 

Krankhafte Haltungsschwächen kommen in allen Altersstufen vor. Sie sind nahezu immer in Verbindung mit anderen Grundstörungen zu betrachten und meist nur eine Folge oder ein Symptom dieser Grundstörung. Als überaus häufig werden hier Kinder gesehen, die eine mehr oder weniger starke Störung der Wahrnehmung und des Gleichgewichtes haben. Damit verbunden sind Störungen in der Grobmotorik (ungeschickte oder unsportliche Kinder), Störungen in der Feinmotorik (schlechte Handschrift) und in der Konzentration und Aufmerksamkeit. Ein als ADS diagnostiziertes Kind hat nicht selten auch eine Haltungsinsuffizienz. Man bezeichnet diesen ganzen Komplex als sensomotorische Integrationsstörung und ich kann Ihnen sagen, dass diese Problematik, wenn auch nicht immer offensichtlich, dennoch sehr häufig auftritt.

Auf der anderen Seite sehen wir es immer häufiger, dass die Kinder heutzutage mit konsumierenden Medien zugeschüttet werden. Sie verlernen, zu riechen, zu fühlen, zu tasten und ihren Körper wahrzunehmen. Sie haben keine natürliche Bewegung mehr, weil Großstadt und Elternangst ihnen die freie Selbsterfahrung nimmt, wie es Kinder noch vor 40 Jahren hatten. Kinder müssen nicht nur im Kopf lernen, sondern auch über die Bewegung und die Aufnahme von Informationen über die Körpersensoren der Hände, Füße, Augen, Nase etc.
Geschieht das nur unzureichend, dann haben wir dieses gesellschaftlich bedeutende Problem.

Die Kinder mit diesen Haltungsschwächen, ob infolge einer Wahrnehmungsstörung oder weil ihnen manchmal die Zuwendung der Erwachsenen fehlt, sind in der muskulären Ansteuerung schlichtweg unterentwickelt.

Therapie

Eine normale kindliche Haltungsschwäche ist nicht therapiebedürftig. Auch die ewigen Ermahnungen „halt dich gerade“ üben nur eine frustrierende Wirkung aus. Die Haltung ist etwas, was über unbewusste Zentren des Gehirnes gesteuert wird. Die daran beteiligte Muskulatur nennt man Stützmotorik, die quasi automatisch ihre Funktion ausübt, unabhängig von unserem Wissen und unserem bewussten Zutun. Oder denken Sie sekündlich daran, alle Ihre ca. 250 Muskeln des Stützapparates genauestens zu aktivieren, damit Sie geradestehen?
Wenn man jemanden auffordert, „steh gerade“, so ist derjenige in der Lage, Hilfsmuskeln für die Extraportion Aufrichtung zu aktivieren. Diese Hilfsmuskeln gehören einer anderen Muskel“rasse“ an, nämlich der Zielmotorik. Die wird aber aus völlig anderen Hirnarealen angesteuert und tut ihre Funktion nur solange, wie wir es bewusst auch wollen (zum Beispiel eine Treppe hinaufgehen, jemanden die Hand schütteln, einen Kuss geben ect.). Wenn unsere Aufmerksamkeit verschwindet oder wo anders hingelenkt wird, hören wir automatisch damit auf.

„Halt dich gerade“ wird deswegen so lange funktionieren, solange das Kind auf seine Haltung achtet, in dem Moment wo ein anderes Objekt unsere Zielmotorik verlangt (und das ist leider zehntausendmal am Tag der Fall), hört es damit auf. Es kann nicht auf seine Haltung achten, weil es neurophysiologisch absolut unmöglich ist. Kinder können so auf die Dauer regelrecht frustriert werden, weil sie denken, sie sind daran schuld, dass sie dem Wunsch der Eltern nicht nachkommen können.

Was wir deshalb tun können ist, die Stützmotorik zu fördern. Und das gelingt nur durch sportliche Aktivität, Freude an der Bewegung, Förderung des Gleichgewichtes (Trampolin springen z.B.) und der Wahrnehmung unserer Umwelt in allen Facetten.
Dabei gibt es einen wichtigen Grundsatz: Kinder sind Motivationsgeschöpfe. Die Freude an Sport und Bewegung kommt nur, wenn Kinder dies auch wollen. Deswegen bringt es nichts, wenn man seinen Sprössling zum schwimmen zerrt, wenn er es nicht möchte und lieber auf Bäume klettert oder zum Purzeljudo geht. Auch die Krankengymnastik ist für Kinder vielfach langweilig und bringt im Endeffekt genauso viel, wie wenn Sie Ihr Kind eine Stunde vor die Haustür schicken würden. Im Gegenteil, viele Kinder werden hier neurotisiert, weil ihnen die Erwachsenen suggerieren, sie wären schon in jungen Jahren „therapiebedürftig“ und damit rückenkrank.

Deshalb sorgen Sie dafür, dass der Fernseher, die Spielekonsole und der Game-Boy ausbleiben und motivieren Sie Ihr Kind zur Bewegung.

Die Frage, ob es sich bei Ihrem Kind um eine krankheitswerte Haltungsinsuffizienz handelt, insbesondere wenn Sie auch noch die oben genannten zusätzlichen Symptome beobachten, sollte ein Kinderarzt oder Kinderorthopäde (kein „Erwachsenenorthopäde“) entscheiden.

Die Behandlung dieser Arten von Haltungsschwäche gehört in Hände von geschulten Krankengymnasten, Ergotherapeuten und anderen medizinischen Personen.
Die Atlastherapie ist eine Möglichkeit, um wirksam auf die unbewusste muskuläre Steuerung der Stützmotorik und das muskuläre Gleichgewicht, sowie die Wahrnehmung Einfluss zu nehmen.